S.N.O.W.
Der so genannte „Staudengarten“ im Kölner Vorgebirgspark weist in seiner Mitte ein Rondell auf, von dem aus sich kreuzartig vier Wege entfernen und den Garten in vier Segmente einteilen. Lutz Fritsch erinnerte diese Form an eine Kompassrose und an die vier Himmelsrichtungen, die seiner ortsbezogenen Arbeit den Titel „S.N.O.W.“ geben, hinter dem sich aber weitere inhaltliche Konnotationen verbergen. Fritsch ist nicht nur ein form- und farbminimalistisch gestaltender Künstler, sondern, unmittelbar mit seiner Arbeit verbunden, auch ein „Raumerforscher“ zu nennen. Ein signifikantes Beispiele dafür bieten zwei gelb lackierte Stahlstangen, deren eine am Bremer Weserufer und deren andere galionsfiguren-artig am Bug der „Polarstern“ steht. Während der nautischen „Raum-Fahrt“ dieses deutschen Forschungsschiffs – an dessen Reisen in die Arktis und Antarktis der Kölner Künstler mehrmals teilnahm -entfernen sich die plastischen Farblinien global voneinander, dann wieder nähern sie sich wie ein Seemann und seine daheim wartende Braut wieder an und bleiben sich über Raum und Zeit hinweg stets verbunden. Ähnliche räumliche Korrespondenzen müssen wir uns auch beim Betrachten und Ergehen von Fritschs eintägiger Intervention im „Staudengarten“ vorstellen. Doch lässt uns erst die Kraft der Imagination seine mehrteilige Präsentation verstehen, die uns lehrt, dass der Raum und die Wahrnehmung von Größe in ihm relativ sind, und dass körperliche Bewegung nötig ist, um den Raum zu ermessen und das in ihm Existierende in seiner Vielfalt der Aspekte zu erleben. Erfahrungen sind eine sprudelnde Quelle unserer Vorstellungen.
Eingeordnet in zwei Reihen kompakt aufstrebender Eibenbäume stehen sich zweimal zwei steinerne Postamente gegenüber, je eines in einem der besagten Gartenviertel; also im Süden, Norden, Osten, Westen. Ob diese Sockel in früheren Zeiten jemals Skulpturen oder Blumenvasen getragen haben, weiß niemand zu beantworten. Das macht sie umso interessanter! Auf jede der grau verwitterten und verwaisten Basen legt Fritsch eine starke und plane Schicht aus Zucker. Dann steckt er wohlüberlegt kleine bis winzige rote, gelbe und blaue Metallstäbe in die weißen Flächen, die en miniature einem rechteckigen Ausschnitt aus der endlosen antarktischen Weite ähneln und bildlich das englische Wort „snow“ assoziieren. Gerade dort im ewigen Eis, wo die gewohnten Maßstäbe fehlen, ist alles groß, hat der „Raumerforscher“ gefolgert und seine empirische Erkenntnis auf seine kleinen Arbeiten übertragen.
Klein? – Alle vier Sockel bieten dem umschreitenden Betrachter Räume und Welten dar, deren Konstellationen farbiger Metallstifte zu mannigfaltigen persönlichen Empfindungen und Interpretationen bezüglich ihrer ‚wahren‘ Größe und den Stand ihrer Beziehungen zueinander anregen. Annäherung oder Distanzierung, Dialog oder Vereinzelung, Mehr- oder Einfarbigkeit, Isolation oder Parteinahme ist hier die Frage!
Inmitten der arkadisch gestimmten Natur des „Staudengartens“ – die Teil des großen Parks und dieser wiederum nur ein Punkt auf dem Globus ist – mögen die zerbröckelnden Basen als Träger kleiner Welten vielerlei Vergleiche wecken. Warum nicht auch die Assoziation zu jenen hohen und steilen Tafelbergen im kolumbianischen Regenwald, deren unerreichbare Plateaus man sich lange Zeit über als Heimat einer urweltlichen Flora und Fauna erdichtete? – Bis das Flugzeug, der Naturforscher und der Extremabenteurer kamen und den Zauber minimal entmystifizierten. Mut zur eigenen Phantasie sollte man auch beim Betrachten von Lutz Fritschs nur relativ kleinen und metaphorisch besiedelten Kosmen bzw. ‚Plätzen‘ haben. Die Phantasie erleichtert das erlebnisreiche Hineinversetzen in das vielfältig verknüpfende Spiel von Dimensionen, von realen und imaginären Beziehungen und Verkettungen – sowie von kreativen und realitätsnahen Rückschlüssen, nicht zuletzt von solchen auf den eigenen inneren Kosmos.
Lutz Fritschs sensible Installation im „Staudengarten“ bietet eine wechselwirksame Raumerkundung zwischen Imagination und Wirklichkeit. Die miniaturartigen Sockelwelten im Süden und Norden, im Osten und Westen sind zwar unterschiedlich besetzt, besiedelt, belebt, doch verbindet sie die systematische Raumordnung des stimmungsvollen hortus condusus, in den man durch Heckentore eintreten und durch sie wieder in die benachbarten Räume und Welten zurückgelangen kann. Wenn man in letztere zurücktritt, werden die Wahrnehmungen von Lutz Fritschs kleinen Farbplastiken auf Zucker bei diesem und jenen Betrachter noch ein Weilchen nachwirken und ihn möglicherweise zu der Einsicht führen, dass im Einfachen das Verstehen vom Komplexeren ruht. Vielleicht kommt ihm diese Erkenntnis auch erst morgen, wenn das fragile Kunstwerk bereits ‚S.N.O.W. von gestern‘ geworden ist! – Was bedeutet schon Zeit im endlosen Raum?
Gerhard Kolberg
Vita
geb. 1955 in Köln, wurde bekannt durch seine Großskulpturen „Rheinorange“ an der Rhein-Ruhr-Mündung in Duisburg oder „Der Stand der Dinge“ in Pforzheim. Die Skulpturen, in ihrer Form reduziert auf das Wesentliche, wirken durch ihre hochglänzenden, farbigen Oberflächen immateriell. Die präzisen Setzungen im Raum definieren Räume neu, lassen immer Übersehenes sichtbar und lang Vertrautes bewusst werden. Die Skulpturen bilden neue Orte des Geschehens: So entstanden u. a. 1992 die Landmarke „Rheinorange“ in Duisburg, 1993 die zweiteilige, weltumspannende Skulptur „RAUM-FAHRT“ in Bremen und auf dem Forschungsschiff Polarstern, 2001 das „RAUMTOR“ in Hillscheid, Westerwald oder 2003 „Ferne Nähe“ für die Stiftung caesar in Bonn sowie 2005 die „Bibliothek im Eis“ in der Antarktis.
In Vorbereitung befinden sich derzeit die zweiteilige Skulptur „Standortmitte“, die die Städte Köln und Bonn miteinander verbindet sowie die Skulptur „Leuchtturm“, die im Rheinauhafen in Köln Position beziehen wird.
Einzelausstellungen (Auswahl)
2006 „Räume Welten“ (Intervention), Museum Ludwig, Köln und Museum für Ostasiatische Kunst, Köln
„Raum für Raum“, Galerie Christian Lethert, Köln
„Eisraum Antarktis“, Yokohama
2003 „In Sichtweite“ Kunstmuseum Bonn und Stiftung caesar, Bonn 2002
„Das Eine und das Andere“, Neues Museum Weserburg, Bremen / Museum Ludwig, Koblenz/
Städtische Galerie Villa Zanders, Bergisch Gladbach
Projekte (Auswahl)
1994 – 2005 Arktis / Antarktis – 3 Expeditionen mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
1999 „EIS ZEH RAUM“ Künstlerfilm, Lutz Fritsch in Co-Produktion mit 3sat/WDR
2005 „Schneeball“, aus der Antarktis in die Arktis