BILDERGALERIE

„… à la recherche du temps perdu …“

Der Immergrüne Garten ist der nördlichste und durch seine dichte Buchenhecke am meisten geschlossene Sondergarten des Vorgebirgsparks. Wenn man ihn, aus dem Baumhof kommend, betritt und womöglich die drei Stufen in denetwas vertieft liegenden Innenbereich hinabsteigt, um sich die Skulpturen-Installation der Frankfurter Künstlerin Waltraud Munz anzuschauen, sieht man auf den ersten Blick und vielleicht auch auf den zweiten und dritten: nichts. Oder besser: nur den Park, aber keine Kunst. Die Erwartung, dass ein Kunstwerk, das eigens für seine nur an einem Tag stattfindende Präsentation entworfen wurde,sich farblich und formal aus seinem Kontext heraushebt, um aufzufallen und die Blicke auf sich zu ziehen, wird nicht bedient. In extremem Maße zurückhaltend kommen die Skulpturen daher, die man schließlich doch zwischen den hohen Taxussträuchern entdeckt. Es sind vier stereometrische Körper, genauer: Quader, jeweils 100 x 100 x 48 cm messend, die beinahe unsichtbar bleiben, weil sie an den Außenseiten rundum mit silberfarbenem Polystyrol verspiegelt sind. Eigenschaftslosigkeit ist die herausragende Eigenschaft dieser Arbeiten. Statt sich hervorzutun, weisen sie von sich weg auf die Umgebung des Parks und zurück auf den Blick des Betrachters. Je nach Standort sieht man in ihnen den Himmel, die Bäume, das Gras oder sich selbst gespiegelt.
Wer mit der Kunst des 20. Jahrhunderts vertraut ist, mag beim Anblick dieser perfekten, jede Spur handwerklicher Bearbeitung vermeidenden plastischen Körper an den amerikanischen Minimalismus denken, etwa an die gläsernen Kuben von Larry Bell oder, eher noch, an die rundum versilberten Spiegel-Stelen von John McCracken. Doch der Schein der formalen Ähnlichkeit trügt. Die Minimalisten waren darauf bedacht, perfekte geometrische Körper als autonome Objekte vorzustellen, zu denen man sich als Betrachter im Raum verhalten sollte. Die Spiegel-Quader von Waltraud Munz funktionieren völlig anders: Sie sind nicht primär dafür da, formale Gegebenheiten aufzuzeigen, sondern etwas zu verbergen.
„… à la recherche du temps perdu…“, der von Marcel Prousts großem Roman entlehnte Titel macht deutlich, dass es Waltraud Munz mit ihrer Installation nicht um geometrische Formen im Raum, sondern um ein Erleben von Zeit geht. Und in der Tat kreuzen und verdichten sich in ihrer Arbeit, wenn man sie in ihrem spezifischen Kontext betrachtet und bedenkt, verschiedene Zeitschichten.

Wer mit den Gegebenheiten des Vorgebirgsparks vertraut ist, weiß es; wer ihn ohne Vorkenntnis betritt, ahnt es: Die Spiegelskulpturen sind hohl, bloße temporäre Hüllen für dasdarunter Verborgene, die vier Sandsteinsockel nämlich, die zur Ausstattung des Immergrünen Gartens gehören und früher einmal mit figürlichen Skulpturen geschmückt waren. Das Wahrnehmen der Spiegelbilder entspricht einem flüchtigen, momentanen Zeitmoment, das sich in jedem Augenblick verändert, während die Sockel, welche die Spiegel verbergen, seit gut hundert Jahren fest an ihren Plätzen stehen. Doch trotz dieser Konstanz sind auch sie Zeichen einer „verlorenen Zeit“: Die Skulpturen, die sie einst trugen und die man noch auf alten Fotos des Parks erkennen kann – zierliche Putten, die ausgelassen mit Delphinen und Schildkröten spielen –, sind lange verloren. Ihr neobarocker Stil war 1911, zur Zeit ihrer Aufstellung, nur noch historisierendes Zitat eines längst vergangenen Kunststils. Fritz Encke, der den Vorgebirgspark (und viele andere Grünflächen in Köln) entwarf und anlegte, hatte sich für diesen Volkspark zwar an Vorbildern englischer Gärten orientiert, sich aber beim Immergrünen Garten mit seinen Hecken, den intimen Sitznischen und der geometrischen Gliederung des Rasens auch dezente Rückgriffe auf die Gartengestaltung des Barock erlaubt.

Auf subtile Weise kreuzen sich also in Waltraud Munz’ Skulptureninstallation die verschiedenen Zeitebenen, aktuelle Anschauung und nur noch in Spuren vorhandene Vergangenheiten (im Plural!). Nimmt man den Titel der Installation beim Wort und macht sich beim Betrachten und Nachdenken auf die Suche nach der „verlorenen Zeit“, so kommt man unweigerlich zu einer Reflexion über die Wahrnehmung selbst und ihre historische Dimension. Dabei stellen sich Fragen. In den Worten der Künstlerin: „Was ist Wahrnehmung? Was ist Realität? Welche Rolle spielt die Erinnerungbei der Wahrnehmung? Was ist Zeit? Ist Zeit linear oder diskontinuierlich?“ Die Installation von Waltraud Munz kann dazu beitragen, sich in Erinnerung zu rufen, dass die historischen Zeitschichten unserer alltäglichen Umwelt durch eine einseitige Fixierung auf die Gegenwart ebenso inVergessenheitgeraten wie die von Flechten und Moosen bewachsenen, von Wind und Wetter aufgerauten Sandsteinsockel hinter den glattenflüchtigen Reflexionen der Spiegelquader verschwinden.

Peter Lodermeyer

VITA

1949     ——–geboren in Schwäbisch Gmünd, lebt und arbeitet bei Frankfurt am Main

1971  – 1973      Freie Kunstschule Stuttgart bei Gerd Neisser

1972  – 1973      Universität Stuttgart Kunstgeschichte und PhilosophieProf. Spaemann + Prof. Bense

1975  – 1977      Staatl. Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Prof. Harry Kögler

1977  – 1980      Staatl. Hochschule für Bildende Künste Frankfurt am Main  – Städelschule –

1977  – 1980      bei Prof. Johannes Schreiter und Prof. RaimerJochims – Meisterschülerin –

Auszeichnungen und Preise

2014                 Artist in Residence YATOO-iWongolSüdkorea

2012                 Katalogförderung HMWK Wiesbaden ÜBER BLICKE, Darmstadt

2010                 Reise-Stipendium China – Hess. Ministerium f. Wissenschaft und Kunst

2009                 Katalogförderung HMWK Wiesbaden „sweet-spot areas“ Dreieich

2007                 Reise-Stipendium USA – Hess. Ministerium f. Wissenschaft und Kunst

2005                 Moldau-Stipendium – Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst

2000                 1.PreisThe World Festival of Art on Paper Slovenia

1999                 1. Preis Internat. Biennale Neues Aquarell

1999                 1. Preis der Kunststation Kleinsassen

Ausstellungen(Auswahl)

2014                 VORGEBIRGSPARKSKULPTUR Köln (G)

2014                 Darmstädter Sezession, Ziegelhütte Darmstadt (K) (G)

2014                 7. Waldkunst-Biennale Darmstadt (K) (G)

2013                 6th Geumgang Nature Art Pre-Biennale, Süd-Korea (K)(G)

2013                 vAertigoarterritoire 3. Parcours d’Art Actuel en Suisse Normande, Frankreich (K)(G)

2013                 maiporlinge  – Remise Zwingenberg(E)

2012/13            ÜBER BLICKERegionalgalerie Südhessen Regierungspräsidium Darmstadt (K) (E)

2013                 10. Vogelfrei-Biennale „Stadtgarten“ Darmstadt (K) (G)

2011                 09.Vogelfrei-Biennale „Jäger und Sammler“ Jagdschloss Kranichstein (K) (G)

2010                 Forest Art China, Poetic Forest, Mt. Lushan, China (K)(G)

2010                 798 Art District Beijing, Anni Art Gallery, Peking / China (G)

2009                 SWEET-SPOT AREASStädt. Galerie Dreieich (K)  (E)

2009                 08. Vogelfrei-Biennale Dachterrasse darmstadtium (K) (G)

2008                 Kyrgyz National Museum of Fine Arts, Bishkek, Kyrgyz Republik(G)

2008                 Wortbruchbasis e. V.  Frankfurt am Main (K) (G)

2007                 Forest Art Wisconsin, Madison/Wisconsin (USA) (K) (G)

2007                 3. Höhler-Biennale Gera (K) (G)

2007                 7. Vogelfrei-BiennaleWintergARTen Darmstadt (K) (G)

2006                 3. Internat. Waldkunst-Biennale Darmstadt (K) (G)

2005                 6. Vogelfrei-Biennale Residenzschloss Darmstadt, Schlossterrasse (K) (G)

2004                 ART Karlsruhe Galerie in der Feste (K) (G)

www.waltraudmunz.de

( K = Katalog, G = Gemeinschaftsausstellung, E = Einzelausstellung)