BILDGALERIE

"Ohne Titel"

Die Kölner Künstlerin Alice Musiol verwendet in ihren Objekten und Installationen immer wieder Materialien, die im Kunstkontext ungewöhnlich und folglich unverbraucht erscheinen. In ihrem Portfolio finden sich zum Beispiel Arbeiten aus Streichhölzern oder aus Streichholzschachteln, raumgreifende Installationen mit schwarzem Veloursstoff und auch so fragile Konstruktionen wie ein Bett aus Knäckebrotscheiben oder eine Bodeninstallation, die aus unzähligen vertikal aufgerichteten Salzstangen besteht. Selbst für diverse Sportutensilien findet sie neue Verwendung: Hölzerne Gymnastikkeulen etwa verwandeln sich bei ihr in Spielfiguren eines riesigen, verfremdeten Menschärgere-dich-nicht-Spiels, und für die VorgebirgsparkSkulptur 2018 hat Alice Musiol eine Installation aus drei großen, separaten, architektonisch anmutenden Plastiken beigesteuert, in denen insgesamt 271 Gymnastikreifen „verbaut“ sind. Diese Reifen aus mehrschichtig verleimtem, unlackiertem Buchenholz sind sorgfältig gearbeitete handelsübliche Produkte, wie sie von Sportfachgeschäften angeboten werden. Mit einem Durchmesser von 90 Zentimetern, einer Breite von zwei und einer Dicke von einem Zentimeter wiegen sie je zirka 430 Gramm und entsprechen damit in Größe und Gewicht den Wettkampfvorschriften der International Gymnastics Federation (I.G.F.).
Ein Kriterium für die Wahl ihrer Materialien ist für Alice Musiol neben den ästhetischen Qualitäten immer auch ein logistisches Moment. Sie verwendet bevorzugt Werkstoffe, die leicht transportierbar und ohne allzu viel Aufwand auf- und abbaubar sind. Daher baut sie ihre Reifenplastiken auch in einem einfachen Montageverfahren auf, einer Art Leichtbauweise, wobei vertikal stapelbare modulare Einheiten aus jeweils sechs Reifen gebildet werden, ohne dass die einzelnen Elemente miteinander verleimt, verschraubt oder sonst wie verbunden werden müssten. Dabei wird zunächst ein Reifen als Basis auf den Boden gelegt.
Von dessen Innenrand her werden zwei Ringe symmetrisch gegeneinander gelehnt und zwei weitere von den Seiten her hinzugefügt. Das Ganze wird zuletzt von einem horizontal aufgesetzten Reifen wie durch eine Klammer zusammengehalten, wobei dessen Eigengewicht die Konstruktion ausreichend stabilisiert.
Dieses Schlusselement kann dann wiederum zur Basis für das nächste, in gleicher Weise gebildete Modul werden – und so weiter. Theoretisch kann ein solcher Reifen-Turm bis in beliebige Höhe aufgestockt werden. So einfach das Bauschema jedes einzelnen Moduls auch ist, in der Summe überfordern die vielen einander überlagernden und perspektivisch verzerrten Kreislinien das Auge des Betrachters und lassen die lineare Architektur der Plastiken verwirrend kompliziert erscheinen.

Im Immergrünen Garten des Vorgebirgsparks hat Alice Musiol zum ersten Mal überhaupt Arbeiten aus Gymnastikreifen im Außenraum installiert. Dabei hat sie zwei treppenförmig ansteigende „Architekturen“ aus Türmen von jeweils 1+2+3+4+5 Modulen gebaut, eine dritte weist zusätzlich noch einen sechsstöckigen Turm auf.

Wenn man den von einer Hecke umschlossenen Immergrünen Garten von seinem einzigen Zugang, vom Baumhof her, betritt, sieht man die drei Plastiken quer zur Längsachse des Gartens angeordnet und in verschiedenen Raumebenen gestaffelt:

Die erste befindet sich ganz vorne rechts, eine zweite steigt in der Mitte, wo das Bodenniveau des Gartens etwas tiefer liegt, nach links hin mitten in die dunkle „Wand“ aus Eiben hinein. Die am weitesten hinten liegende und zugleich größte Arbeit wächst nach rechts hin bis zu einer Höhe von etwa 3,75 Meter, sodass sie sich optisch in einer gemeinsamen Konturlinie mit der Baumreihe rechts verbindet. Durch ihre Anordnung in verschiedenen Ebenen aktivieren die drei Plastiken den gesamten Raum des Immergrünen Gartens und treten zugleich in innige Beziehung zu den hoch und buschig gewachsenen Eiben, vor deren dunkelgrünem Hintergrund sie sich mit ihren hellen Linien deutlich hervorheben.

Mit ihrer auf der Kreisform basierenden Geometrie stehen die Reifenplastiken eigentümlich fremd in dieser Parklandschaft. Man könnte sie, falls es so etwas geben sollte, als Ansammlungen „runder Kristalle“ bezeichnen.

„Was ist überhaupt ein Kristall, wenn nicht das physische Sein einer Verbindung von Zeichnung und Volumen? Der Kristall lässt sich tatsächlich als eine Architektur aus Kanten (…) ansehen“, schreibt der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in seinem Buch „Der Kubus und das Gesicht“ über eine Skulptur von Alberto Giacometti. Wenn man das Wort „Kanten“ durch „Kreislinien“ ersetzt, kann man Didi-Hubermans Beschreibung der Kristallform auf Alice Musiols Plastiken anwenden. Auch in ihren Reifen-Architekturen verbinden sich Zeichnung und Volumen aufs engste, jedoch muss man darauf hinweisen, dass es sich hier um offene Volumina handelt.

Der Raum fließt durch diese offenen Formen hindurch, Innen und Außen verfließen optisch in permanenter Veränderung, sobald man sich als Betrachter in Bewegung setzt und die drei Plastiken aus wechselnden Perspektiven und Entfernungen betrachtet. Auf der einfachen Grundform des Kreises basierend entfalten Alice Musiols Arbeiten in der Summe eine raumgreifende, den Umraum verändernde Komplexität, in der die plastischen Grundthemen Kontur, Volumen und Raum perfekt zusammenwirken.

– Peter Lodermeyer –

VITA

1971 geboren in Kattowitz, Polen, lebt und arbeitet in Köln

1981 Übersiedlung in die BRD

1996-99 Kunstakademie Düsseldorf bei A.R. Penck, Meisterschülerin

1993-96 Academie Beeldende Kunsten, Maastricht

Preise und Stipendien

2017 Deutsche Akademie Rom Casa Baldi

2013 Dorothea-Erxleben-Programm für Bildhauerei des Landes Niedersachsen, bis 2015

2012 Theodor-Körner-Fonds, Wien

2006 Stipendium für Bildende Künstlerinnen mit Kindern ohne Wohnortwechsel des Landes NRW

2003 Projektstipendium der Kunststiftung NRW, Aufenthalt in Kanada

1999 Transfer, Künstleraustausch Nordspanien/NRW des Kultursekretariats NRW

1998 Kunstpreis der Stadt Bonn

1995/96 Erasmus-Stipendium, Nuova Accademia di Belle Arti, Mailand

Einzelausstellungen (Auswahl)

2018 Nebenleben, Künstlerhaus Sootbörn, Hamburg (mit Kerstin Mörsch)

2017 Casa Baldi, Olevano Romano

2017 bel étage, galerie weisser elefant, Berlin (mit Anja Gerecke)

2017 Gone for Good, VGH galerie, Hannover (K)

2016 Country, Museum Abtei Liesborn, Wadersloh (K)

2016 Casting Clouds, Tiefgarage, Köln

2015 Ugly but Perfect, Galerie 401contemporary, Berlin

2014 Kissing the Dust, Galerie Grölle pass:projects, Wuppertal

2012 Opener, Kunstverein Koelnberg, Köln (mit Nisrek Varhonja)

2010 dis>play, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

2010 When Tears Don´t Cry, Rudolf- Scharpf- Galerie, Ludwigshafen (K)

2008 rudimentum, Cuxhavener Kunstverein (K)

2006 Heimkraut, Wilfried von Gunten, Projektraum für zeitgenössische Kunst, Thun

2004 Stickstoff, Westfälisches Industriemuseum/ Textilmuseum Bocholt (K)

2003 About Alice, Peak Gallery, Toronto

2002 Die innere Unsicherheit, Kontor in der Schneiderei, Köln

1999 über leben, Kunstpreis der Stadt Bonn 1998, Kunstmuseum Bonn (K)

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2018 (IM)MATERIELL.Über das Geistige im Stofflichen, Städtische Galerie, Bad Reichenhall

2018 Vertikal, Gesellschaft für Kunst und Gestaltung, Bonn

2017 Bildersturm, Interventionen in Bonner Kirchen, in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bonn (K)

2016 Schwarzarbeit, Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch-Gladbach (K)

2015 Zehn Räume, drei Loggien und ein Saal, Sprengel Museum, Hannover (K)

2014 WINWIN, Jack in the Box/ Montagehalle, Köln

2011 Passio und Compassio. Vom Leben und Sterben der Heiligen, Galerie der Stadt Backnang

2011 I love ALDI, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen (K)

2010 64. Bergische Kunstausstellung, Kunstmuseum Baden, Solingen (K)

Arbeiten in öffentlichen Sammlungen

Sprengel Museum Hannover, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, Sammlung Wolfgang Hanck,

Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Deutscher Herold, Bonn

www.alicemusiol.de