BILDGALERIE

STUDIE FÜR UNPRÄPARIERTES PAPIER

Ein berühmter Essay von Rosalind Krauss, 1979 in der Zeitschrift October veröffentlicht, trug den Titel „Sculpture in the Expanded Field“. In diesem kurzen Text zeigte die amerikanische Kunstkritikerin auf, wie sehr das, was man einst als Bildhauerei bezeichnete, spätestens seit den 1960er-Jahren experimentell verändert und erweitert worden ist. Die Vorstellung von „Skulptur“ hatte sich aufgrund neuer Materialien, neuer Praktiken, Kontexte, Ausstellungsorte, Konzepte usw. völlig verändert – und diese Tendenz setzt sich bis heute ungebrochen fort. Auch wenn die „Vorgebirgspark Skulptur“ ihren Schwerpunkt weiterhin in der Präsentation von Skulpturen und Plastiken sieht, hat sie doch das „erweiterte Feld“ dreidimensionalen künstlerischen Arbeitens stets im Auge behalten.

Gilbert Geisters Arbeit „Studie für unpräpariertes Papier“ steht sicherlich nah an der Grenze dessen, was man noch als Skulptur zu bezeichnen bereit ist, dennoch entfaltet sie ein klassisches Motiv bildhauerischer Arbeit: die Präsentation eines Objekts im Raum – jedoch neu und zeitgemäß interpretiert und mit einer performativen Komponente versehen, womit die Zeit als ein entscheidender ästhetischer Faktor ins Spiel kommt. Man könnte auch von einer Aktion oder einer Performance sprechen, wobei der Protagonist nicht etwa der Künstler selbst ist, sondern die Hauptrollen einem weißen Quadrocopter, also einem mit vier Rotoren ausgestatteten Fluggerät („Drohne“ klingt zu militärisch), sowie einem ebenfalls weißen, leeren Blatt Papier überlässt. Der Künstler selbst beschränkt sich auf die Rolle des Mannes an der Fernsteuerung, der so lange die Kontrolle über den Ablauf der Aktion ausübt, bis er sie ganz bewusst, zumindest teilweise, aus der Hand gibt.

Der Ablauf ist schnell beschrieben. Der Quadrocopter wird in Gang gesetzt, das surrende Rotorengeräusch lenkt die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Vom Boden aus startet das Gerät, hebt sich in die Luft und gewinnt schnell an Höhe. Die Blicke der Besucher folgen ihm in unbestimmter Erwartung. Das weiße Papier, das es an einem Seil hinter sich herzieht, bleibt zunächst ein etwas unverständliches Detail, scheint aber von Bedeutung für das, was nun kommen soll. Wenn der Quadrocopter eine Flughöhe von etwa 50 Metern erreicht hat, wird das Blatt per Zeitauslöser aus seiner Halterung freigegeben. Hat bis dahin das technische Gerät im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, wird von diesem Augenblick an das fallende Blatt Papier zum Ereignis, das alle Blicke auf sich zieht.

Aus der Kontrolle der Fernbedienung befreit, schwebt, tanzt und segelt es in unvorhersehbaren Schwüngen, in Wipp- und Schaukelbewegungen nach unten. Nur den Einflüssen von Schwerkraft, Luftwiderstand und Winddruck ausgesetzt, biegt es sich, bewegt es sich, fliegt, fällt und schaukelt dem Boden entgegen. Das Fallen des Blattes und die Schönheit der Bewegungslinien werden zum performativen Akt, zum Kunstwerk. Unwillkürlich versucht man als Betrachter vorwegzunehmen, wo das Papier den Boden berühren wird. Wird es inmitten der Betrachter landen oder weit von ihnen entfernt, wird es vom Wind in die Bäume geweht oder doch auf freier Fläche niedergehen – oder gar mitten im Wasserbecken des Rosengartens?

Als ein Flug-Blatt im wörtlichen Sinne unterscheidet sich das Papier vor allem dadurch von Flugblättern, denen diese Bezeichnung nur metaphorisch zukommt, dass es völlig leer ist. Papier ist auch heute, im Zeitalter digitaler Medien, noch immer das übliche Trägermaterial, das Künstler aller Gattungen bevorzugen, wenn es darum geht, Skizzen, Notate, Entwürfe und Ideen aufzuzeichnen. Doch hier bleibt das Papier frei von jeder Mitteilung. Mit Gilbert Geisters unbeschriebenem Blatt fällt keine Botschaft vom Himmel, kein Appell, kein Manifest. Die Leere des Papiers als reine Potenz, als Möglichkeits- und Projektionsfläche ist von entscheidender Bedeutung. Gerade in der Leere des Blattes zeigt sich die Nähe dieser Arbeit zu einer Ästhetik des Zen und zum Kunstbegriff von John Cage, auf die Gilbert Geister nachdrücklich verweist. Mit der Absichtslosigkeit, Zufälligkeit und lapidaren Selbstverständlichkeit des einfachen Vorgangs eines aus großer Höhe herabfallenden Blattes Papier wird Geisters Arbeit interpretierbar als so etwas wie ein Haiku, das in ein zeitgenössisches Medium übersetzt wurde. Japanische Haikus, diese vom Geist des Zen getragenen Kurzgedichte, machen die einfachsten, alltäglichsten Geschehnisse zum Thema und lassen in der kunstlosen Form ihres konzentrierten Ausdrucks doch die ganze Fülle des Seins darin aufblitzen. Wie das Schlachtross in einem Haiku des bedeutenden Dichters Kobayashi Issa aus dem 18. Jahrhundert kehrt Geisters Quadrocopter zu seinem Ausgangspunkt zurück, während das Blatt Papier sich in einem unwiederholbaren Tanz von Fallen und Schweben dem Boden nähert.

Das Schlachtross kommt allein zurück.

Vom Baum fällt ein Blatt.

(Kobayashi Issa, 1763-1828)

Peter Lodermeyer

VITA

1973 geboren in Bochum

lebt und arbeitet in Köln

1996 – 2000    aaa  Studium der freien Kunst an der Hochschule der Künste Berlin

2001                   Meisterschüler von Katharina Sieverding

seit 2013 aaaaaaaaLehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule Bochum im Bereich Malerei

2014 – 2015    aaa  Lehrbeauftragter an der Alanus Hochschule in Alfter im Bereich Malerei

Stipendien / Förderungen

2011                    Projektstipendium KunstKommunikation des Kunsthauses Kloster Gravenhorst, Kreis Steinfurt

2011                    Realisation des Konzept-Comics „Das partizipative Geflecht“ (zusammen mit Matthias Schamp)

2014                    Kunstpreis (1. Preis) vergeben vom Bund Deutscher Architekten (BDA Dortmund)

2015                    Projektstipendium KunstKommunikation des Kunsthauses Kloster Gravenhorst, Kreis Steinfurt, mit Installation der Arbeit „Dialogfontäne“

2015                    Förderung durch die SKStiftung für das Projekt „Feedback“

Einzelausstellungen (Auswahl)

2015                    Gummi Work Out, Moltkerei Werkstatt, Köln,

2014                    Studie für unpräpariertes Papier, Bergbaumuseum Bochum, (Vortrag und Aktion)

2012                    Hubschraubermalerei und Ballonzeichnung, Galerie Münsterland, Emsdetten,

2011                    Flap Flap, Kulturstiftung Schloss Agathenburg, Landkreis Stade (zus. mit Matthias Schamp)

2011                    Ballonmalerei und Zeichenmaschinen, Cuxhavener Kunstverein

2010                    Ballonzeichnung, Kunstverein Bochum

2009                    Ballonmalerei, KIOSK24, Herford,

2004                    Kinetische Malerei, Kulturrat, Bochum

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2015                    4D, Gummi work out, Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Hörstel

2011                    arbeit nervt, Cable car, Künstlerhaus Dortmund

2010                    SIX DAYS OF NEW MEDIA, Berlin

2007                    Repeat when necessary, Künstlerhaus Dortmund

2006                    und es bewegt sich doch…, von Alexader Calder und Jean Tinguely bis zur zeitgenössischen mobilen Kunst, Museum Bochum

Einzel-Publikationen (Auswahl)

Wasserskulptur – Gilbert Geister, Daumenkino anlässlich der Skulptur Dialogfontäne im Kunsthaus Kloster Gravenhorst, 2015; Gilbert Geister, 2014, Katalog mit Installationen und Projekten, herausgegeben vom Bochumer Kunstverein, Kettler-Verlag, Katalogtexte von Verena Titze, Dr. Christoph Kievelitz, Dr. Peter Schmieder, Reinhard Buskies; Cervantes Hand, Konzept-Comic, 2012, Matthias Schamp (Text), Gilbert Geister (Zeichnung), Herausgeber: Kulturstiftung Schloß Agathenburg, Landkreis Stade; Das partizipative Geflecht, Konzept-Comic, 2012, Matthias Schamp (Text), Gilbert Geister (Zeichnung), Herausgeber: Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Kreis Steinfurt; Gilbert Geister, 2010, Katalog mit Installationen und Projekten aus den Jahren 2005 – 2010, herausgegeben vom Dortmunder Kunstverein, Katalogtexte von Verena Titze und Dr. Christoph Kievelitz; Flatterballons – Gilbert Geister – mit einem Text von Reinhard Buskies, Daumenkino zur Ausstellung Ballonzeichnung im Kunstverein Bochum, 2010; Malmaschine – Gilbert Geister, Daumenkino zur Ausstellung Ballonmalerei und Zeichenmaschinen im Cuxhavener Kunstverein, 2011 Der Gulp, Konzept-Comic, 2008, Matthias Schamp (Text), Gilbert Geister (Zeichnung), Herausgeber: Dortmunder Kunstverein

www.gilbertgeister.de